Der Gegensatz von Vernunft und Menschenrechten

Sylvia Zeller, René Talbot und Frank Wilde

Auf der Grundlage der Kritik der Aufklärung und des modernen Vernunftsbegriffs wollen wir der Frage nachgehen, in welchen Punkten sich Gegensätze zwischen den Menschenrechten und der Vernunft ergeben. Gemeinhin wird beides gleichgesetzt. Dagegen: Adorno/Horkheimer sprechen von der "Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen,...". Foucault spricht zumindest bezogen auf den französischen Vernunftsbegriff von "Folter ist Vernunft". Gerade die Diskussion um den Fall Daschner hat gezeigt, dass es vernünftige Gründe für Folter geben kann. Sind die Argumente für ein grundsätzliches Folterverbot nun einfach "vernünftiger" oder gilt es auf einer anderen (nicht religiösen) Basis die Vernunft zu begrenzen und Menschenrechte für unantastbar zu erklären?
Dieser Konflikt zeigt sich besonders im täglich praktizierten Feld der psychiatrischen Zwangsbehandlung, in der auf der Basis der Vernunft Menschenrechte massiv genommen werden.

Was ist die Bedeutung eines Wortes?
Der Gegensatz von Vernunft und Menschenrechten - zunächst überrascht es sicherlich, zwischen den Menschenrechten und der Vernunft überhaupt einen Gegensatz sehen zu wollen. Tatsächlich aber zeigt sich bei genauerem Hinsehen deren Gegensätzlichkeit. Von dem französischen Philosophen Michel Foucault ist dies schon 1961 mit seinem Werk Wahnsinn und Gesellschaft - Eine Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft angedeutet worden und von dem amerikanischen Psychiater Thomas Szasz mit seinem aus demselben Jahr stammenden Buch Geisteskrankheit - ein moderner Mythos implizit aufgedeckt worden. Aber es fehlt an einer ausbuchstabierten Beschreibung dieses Gegensatzes.

"Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache" sagt Ludwig Wittgenstein - aber noch wesentlicher ist der Gebrauch eines Wortes in gesellschaftlicher Praxis. Wie die Handlungen und die Beziehungen von Menschen durch den Gebrauch bestimmter Wörter strukturiert werden, bestimmt deren Bedeutung, insbesondere wenn diese die Anwendung monopolisierter Gewaltmittel rechtfertigen soll, um den Willen eines anderen Menschen zu brechen.

Und welchen Gebrauch hat nun “Vernunft” in der Sprache bzw. gesellschaftlicher Praxis? Sie ist ein Herrschaftsinstrument, dessen brutaler Kern durch beschönigenden Sprachgebrauch des Wortes "Vernunft" bis zur Unkenntlichkeit verhüllt wird. Das ist der klassische Ideologievorwurf, der von den Vertretern der Frankfurter Schule verschiedentlich erhoben wurde.

Diese These soll im Folgenden belegt werden und man vermutet zurecht unsere Absicht einer völligen Dekonstruktion von "Vernunft". Michel Foucault hat dafür das Bonmot geprägt: "Die Vernunft, das ist die Folter".
Dabei werden wir bei diesem umfangreichen Thema nur ein grobes Mosaik legen können, bei dem einige Zwischenräume offen bleiben.

Die brachiale Vernunft
Was meinen wir, wenn wir von einem Gegensatz zwischen Vernunft und Menschenrechten sprechen? Es geht um eine rhetorische Zuspitzung, die auf einen Gegensatz in letzter Konsequenz verweist. Es ist nicht gemeint, dass Vernunft und Menschenrechte in einem antagonistischen Gegensatz stünden, denn sicherlich gibt es auch vernünftige Begründungen für Menschenrechte bzw. sind durch die Menschenrechte auch vernünftige Handlungen oder Erklärungen geschützt. Aber, und deshalb konzentrieren wir uns auf diesen Gegensatz, wenn es darauf ankommt, dann, wenn Unvernünftige auf ihre Menschenrechte und deren Unteilbarkeit bestehen, dann tritt der Gegensatz offen zutage.

Die Unvereinbarkeit von Vernunft und Menschenrechten wird regelmäßig zugunsten der Vernunft durch die Verletzung der Menschenrechte entschieden, durch Brechen des Willens der Unvernünftigen mit Zwang und Gewalt in der Psychiatrie, mit folterartiger Fixierung, ja sogar mit dem brachialst möglichen Zugriff, der zwangsweisen Penetration mit einer Spritze und Injizierung von bewußtseinsverändernden Drogen oder sogar erzwungenem Elektroschocken.

Insofern werden wir uns im Weiteren gar nicht um den Versuch einer umstrittenen Definition von Vernunft bzw. deren wesentlichen Kriterien bemühen, sondern nur umgekehrt, sozusagen von der komplementären Seite, eben der Unvernunft, die Vernunft begrenzen. Zumindest folgendes gilt per Definition als nicht vernünftig bzw. unvernünftig: Handlungen, Gefühle und Gedanken, die als wahnsinnig, psychisch krank oder geistesgestört diagnostiziert werden.

Während bei einer kriminellen Handlung wenigstens die Rechte anderer verletzt wurden und somit - maximal nach der Verhältnismäßigkeit aller staatlichen Gewalt - wiederum Rechte des Verletzers verletzt werden können, gibt es bei den Unvernünftigen kein Halten mehr: Auch das sonst als zivilisatorisches Tabu etablierte Folterverbot gilt nicht mehr, wenn die körperliche Unversehrtheit der Unvernünftigen durch die psychiatrische Zwangsbehandlung verletzt wird und sie gegen ihren erklärten Willen in psychiatrischen Gefängnissen misshandelt werden.

Diese Misshandlungen sind unvereinbar mit den Menschenrechten, wie sie 1948 in der UN Erklärung beschlossen wurden. Durch die systematische Unterscheidung von Vernunft und Unvernunft ist es möglich einer bestimmten Gruppe von Menschen, die Menschenrechte vorzuenthalten.
Es fragt sich, wie die Unvernünftigen so eine Bedrohung für Vernunft werden konnten?

Die Vernunft in den Fußstapfen der Inquisition
Das Programm der Aufklärung ist der Versuch, der Vernunft einen göttlichen Platz zu verschaffen. Damit wurde der Vernunft die Position eines obersten Richters eingeräumt, der die universalen und letzten Fragen entscheidet. Die bürgerliche Gesellschaft bemächtigt sich zur Legitimation ihrer Machtübernahme dieses Vernunftbegriffs. Damit wird der Mensch als vernünftig konstruiert. Vernünftigsein wird zum bestimmenden Element vom Menschsein, womit eine neue Anthropologie begründet wird.
Dazu sagt Hannah Arendt in ihrer Arbeit: Über die Revolution:
"Zu meinen, man müsse nur die "irrationalen" unberechenbaren Triebe und Begierden unter die Kontrolle des "Rationalen" bringen, war natürlich überall charakteristisch für die Aufklärung."

Andererseits hat die Aufklärung mit den bekannten Forderungen nach "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" die Grundlage gelegt für die Gleichheit der Rechte aller Menschen und damit der Menschenrechte. Damit entsteht der Widerspruch zwischen der Gültigkeit eines universellen Rechts für alle Menschen und der Konstruktion des Menschen als Vernunftswesen und der Einschränkung auf bestimmte Menschen, bzw. der Ausschluss der Unvernünftigen. Mit diesem Widerspruch beginnt der Terror der Vernunft in den Fußstapfen der Inquisition.

Im Verlauf dieser Entwicklung wird eine ständische Hierarchie qua familiärer Genealogie abgelöst durch eine Hierarchie von Leistungsträgern. Die Universität wird zur herrschaftsprägenden Institution. Der erworbene Dr. und Prof. Titel löst den Adelstitel ab. Im Zuge dieser Entwicklung setzt sich ein naturwissenschaftliches Weltbild durch. Naturwissenschaft erlaubt durch die Objektivierung und Strukturierung mit mathematischen Modellen und Kausalketten, starke Prognosen und neue Erklärungen der Vergangenheit. Der Erfolg der modernen Naturwissenschaft führte einerseits zu einer großen Produktivitätssteigerung - erwähnt sei z.B. nur die Entdeckung der Elektrizität und ihrer technischen Nutzbarmachung. Andererseits verführten diese Erfolge dazu, auch gesellschaftlichen, geschichtlichen und persönlichen Prozessen eine Gesetzmäßigkeit zu unterstellen. Auch verhießen sie soziale Utopien, die als wissenschaftlich deklariert wurden, sich aber bei den Versuchen ihrer Realisierung als die Alpträume der Vernunft entpuppten.

Interessant ist dabei, dass der Anspruch totaler Erklärbarkeit bekanntlich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb der Naturwissenschaft, namentlich der Physik, auf Widerspruch gestoßen ist: als Beispiele seien insbesondere die prekäre Position des Beobachters in der Quantenphysik, die Heisenbergsche Unschärferelation, die Relativierung von Raum und Zeit durch Einstein und in der Königsdisziplin, der Mathematik, Gödels Unvollständigkeitssatz genannt. Diese interne Demontage in den Kernbereichen von Physik und Mathematik und damit von Naturwissenschaft hat längst die Möglichkeit der Objektivierung fundamental in Frage gestellt, bzw. zersetzt. Diese Entwicklung hat ihre Entsprechung in der Philosophie gehabt, in der namentlich Ludwig Wittgenstein die Unmöglichkeit einer hierarchischen Ordnung von Sprachspielen erklärt hat und damit die Idee einer universalen Theorie verworfen hat. Aber was stellen wir fest: insbesondere in Medizin, Hirnforschung und Biotechnologie, werden diese Tatsachen totgeschwiegen bzw. verdrängt und ein längst überholtes mechanistisches Weltbild wird konserviert.

Bitte keine vernünftige Ökonomie!
"Bürger Gesetzgeber! In Erwägung, dass bis heute der Arme allein euch geholfen hat, die Revolution weiterzuführen und die Verfassung zu schaffen; dass es Zeit ist, ihn ihre ersten Früchte ernten zu lassen; setzt endlich auf die Tagesordnung die seit so langer Zeit gewünschte Einrichtung von Werkstätten, wo der Arbeitsame immer, zu allen Zeiten und überall die Arbeit findet, die ihm fehlt; von Heimen, wo der Greis, der Kranke und der Sieche von Brüdern die Hilfe empfängt, wo der Schmarotzer, der Arbeitsscheue an die Arbeit gewöhnt wird und darüber erröten lernt, dass er von den Früchten des Schweißes anderer gelebt hat."
Dies ist ein Zitat einer Resolution der Einwohner der drei vereinigten Sektionen des Arbeiterviertels Faubourg Saint-Antoine vom 4.Juli 1793, zitiert nach Ulrich Enzensberger, Parasiten, S. 127.

Es zeigt, dass bereits zum Zeitpunkt der Französischen Revolution die Ausgrenzung sogenannter Schmarotzer als Ziel aufklärerischer Ideologie aufscheint. Die Biologisierung sozialer Verhältnisse führt zu einem Programm der Umerziehung zum Zweck der Normierung aller Gesellschaftsmitglieder.

Der Vorstellung eines solcherart "vernünftig" funktionierenden Ameisenstaates wurde nachhaltig von Marx Schwiegersohn Paul Lafargue widersprochen. Mit seinem "Recht auf Faulheit" von 1884 konterkarierte er diese Vernunftskonzepte von Produktionismus und Arbeitsethos.
In dieser Tradition wird es höchste Zeit, Vernunftskonzepte in der Ökonomie endlich über Bord zu werfen: Ökonomie als die Produktion von Waren, Dienstleistungen und anderen tauschbaren Werten verstanden, die verschiedenster Bedürfnisbefriedigung dienen.

Hier gibt es prinzipiell zwei gegensätzliche Konzepte:
a) in marxistischer Tradition wird eine vernünftige Produktion gefordert, die in der von den Bolschewisten durchgesetzen Planwirtschaft in die Realität umgesetzt wurde.
b) eine an Gewinnmaximierung orientierte Marktwirtschaft in der handelnde Subjekte sich über die Bedingungen des Tausches einigen. Dabei spielt Vernunft keine Rolle, es kommt nur auf die subjektive Befriedigung der miteinander tauschenden Subjekte an.
Doch vernunftsgesteuerte Planwirtschaften können bestenfalls den Befehlscharakter der Entscheidungen ihrer Planungsmacher versuchen zu minimieren, Bevormundung bleibt dieser Form des Wirtschaftens jedoch eigen. Warum das so ist, ist einfach zu erklären:
Menschen können aus denselben Gründen das Verschiedenste, ja sogar Gegensätzliche, tun, und sie können aus den unterschiedlichsten Gründen dasselbe tun. Das ist die Ontologie der menschlichen Freiheit. Es kann also keine Abbildungs- oder Zuordnungsvorschrift bzw. ein Programm für die Gründe von Handeln geben und damit ist auch die prinzipielle Unvorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens bzw. menschlicher Bedürftnisentwicklung logisch zwingend beschrieben.

Damit wiederum ist ein System, das Spekulationen besondere Vorteile verschafft bzw. die Spekulanten belohnt, deren Vorhersagen durch die weitere Entwicklung bestätigt werden, dasjenige, das die unverhersagbare Bedürftnisentwicklung schnell und genau bedient. Es macht sozusagen eine Kultivierung irrationaler menschlicher Vorahnung - eben nicht Vernunft! - zu seinem Regulativ.

Dem stehen - seiner Grundtönung nach christliche - Vernunftspredigten entgegen. Sie wollen durch Projektionen, liebevolles Mitdenken, ja völlig absurdes angebliches "Mitfühlen", die logischen Nachteile von Vernunftsherrschaft kompensieren. Im Sinne von, "Was du nicht willst das man dir tu´, das füg´ auch keinem anderen zu", wird aber nicht nur das eigene Handeln begrenzt - entsprechend fordert der hypokratische Eid für Ärzte nur, nicht zu schaden -, sondern es soll die eigene Maxime zur Maxime aller gemacht werden können.

Thomas Szasz hat in dem Buch "Theologie der Medizin" auf Seite 164 analysiert, wozu das führt:
..."kann Gerechtigkeit im einfachsten Sinn als Erfüllung von Verträgen oder Erwartungen definiert werden. Verträge beinhalten außerdem Leistungen und Gegenleistungen - also offenkundige Handlungen. Dadurch unterscheiden sie sich von Absichten, Gefühlen oder Geisteszuständen, die persönliche Erfahrungen sind. Folglich läßt sich Gerechtigkeit öffentlich kontrollieren, überprüfen und beurteilen, während Liebe nicht überprüfbar ist.
Daher ist die Behauptung man handle gerecht, ein Ersuchen um die Zustimmung anderer Menschen, während die Behauptung, man handele liebevoll, keinen Raum für das Urteil anderer läßt und in ihrem Eifer auch keinen Widerspruch duldet. Kurz, obwohl die Liebe dem Ideal nachstrebt, die Bedürfnissse der anderen zu beachten, und die Gerechtigkeit dem Ideal, vereinbarte Regeln zu beachten, bietet die Gerechtigkeit in der Praxis den Interessen der anderen, so wie sie selbst sie verstehen, mehr Schutz als liebevolle Handlungen."

Und was heißt das für die Menschenrechte? Eine Marktwirtschaft erreicht also einen höheren Befriedigungsgrad der Tauschpartner. Diese haben als handelnde Subjekte einen qualitativ anderen Entscheidungsspielraum, weil er auf Selbstbestimmung angelegt ist: Es kommt nicht nur schneller zu einer höheren Produktivität, sondern es entstehen auch größere Spielräume für Transferleistungen, die an Tauschunwillige oder Tauschunfähige mit dem Verweis auf deren Menschenrechte geleistet werden müssen.

Also kann viel eher auch der essen, der nicht arbeiten will. Die Menschenrechte können mit der Forderung, dass es keine Zwangsarbeit geben dürfe, so überhaupt erst verwirklicht werden. Das Recht auf Faulheit wird dann von der Utopie zur gesellschaftlich alltäglichen Erungenschaft.
Und eben nicht nur für Reiche.

Menschenrechte können also nicht durch Vernunft begründet werden. Sie sind das Ergebnis einer Wertsetzung.

Freiheit, so Matthias Beltz , "Freiheit ist, wo und wenn nichts mehr begründet werden muss."

Dieser Text wurde erstmals am 11.05.2006 im Dissidentenfunk veröffentlicht.

home und impressum