Kurt BlumenthalSchrei, wenn du kannst,
auch ohne Echo

Von Wolf-Dieter Narr
Der anhaltend-aktuelle Skandal
psychiatrischer Gewalt in der Hilfsmaske.

-„Was machen wir Bürger mit denen, die nicht so sind wie wir, deren Leistungswert sie industriell – ökonomisch, WDN - unbrauchbar macht; wofür sind sie da und wie gehen wir mit ihnen um?“ (Klaus Dörner, 1988, S.8)
„Wieviele Schuppen, werde ich mir wieder neu vor die Augen kleistern, weil ich meine, sie für meine Handlungs- und vor allem Behandlungsfähigkeit zu benötigen“ (K.Dörner, 1988, S.63).

I. Sprachverkehrung, Sprachverlust und Sprachherrschaft
Soziale und personale Wirklichkeit klassenförmig mit sprachlichen Mitteln aufzuteilen, hebt mit der umfassenden und feinverästelten Unterscheidung zwischen dem an, was als "normal" und dem, was als "anormal" gilt. Lebenschancen und Lebensqualitäten werden entsprechend zugeordnet. In der Zweiteilung "normal"-"anormal" bestätigen und verstärken sich, mit Widersprüchen durchsetzt, allgemein verbreitete Bewusstseins- und Umgangsformen, Vor-Urteile, staatlich gesatzte Rechte und vom staatlichen Gewaltmonopol gedeckte und durchgesetzte Maßnahmen. Das, was als "normal" gilt, wird in der Regel - mit erheblichen Unterschieden je nach Herrschaftsform - von der überwiegenden Mehrheit der staatlich verfassten in einer Region zusammenlebenden Menschen nachhaltig vertreten (darüber hinaus je nach Zeit von einem mehr oder minder geschlossenen Kultur- und Herrschaftskreis, beispielsweise "den westlichen Ländern" oder der "(westlichen) Zivilisation"). Normalität wird zur Norm (und umgekehrt). Sie teilt gesellschaftliche Wirklichkeit in ein Ordnungsschema. Dieses Ordnungsschema herrscht. Es wird allen, die in seinem Rahmen leben und aufgeherrscht: durch Sozialisationsmuster; durch rechtliche Regeln; durch Lebenschancen, die mit Hilfe eines Netzes positiver und negativer Sanktionen ausgelegt und verknüpft werden.

Gerade, weil Normalität/Norm durchgehend prekär sind, sich grenzverwischen und dauernd in einander übergleiten, gerade weil sie ´künstlich´ sind und den jeweils herrschenden Interessen am ehesten entsprechen, sind wiederholtermaßen drei Vorgänge zu beobachten:
- die Naturalisierung von "Normalität" und "A-Normalität" zum einen;
- zum anderen ihre diskriminierende Zweiteilung: akzeptierte Normalität hier, diskriminierte A-Normalität dort;
- zum dritten, ihre klare und eindeutige Geschiedenheit: allenfalls eine enge, einwegige Hängebrücke führt von der normalen zur anormalen Seite und zurück..
Sprachlich und im Alltagsverhalten gehört "man", als bezeichne diese Umstand ein eigenes Verdienst , der ebenso "natürlichen" wie divers herrschenden Normalität an. Wer in dieser "Normalität" nicht mitkommt, wer herausfällt, wessen Verhalten den normalen Standards nicht genügt, der ist als Mängelwesen für sein Mangelverhalten selbst schuld. Diese Schuld beginnt mit der Geburt. Sie wird außerdem in vorgeburtliche Anlage- oder Erbfehler rückprojiziert. Diese wiederum wird in Richtung des gesellschaftlichen Werdegangs vorprojiziert. Entsprechend wird sie oder er behandelt. Strafen stehen im Hintergrund. Sie werden individuell von den A-Normalen selbst verschuldet. Die beiden Qualitäten der A-Normalität und der A-Normalen, ihre naturale Begründung und (Selbst-)Verschuldung heischen danach, die Normalität von ihnen zu entkoppeln. Die Eigenarten und Angehörigen "normalen" Daseins haben prinzipiell nichts mit dem Elend und den Elenden dieser Welt zu tun (s. Pierre Bourdieu u.a. 1997). Mit diesen drei Annahmen panzert sich alles, was "normal" herrscht - unbeschadet der großen Unterschiede im Rahmen dieser Herrschaft -, gegen all das Anormale. Dieses wird ausgeschlossen und dadurch erst zur A-Normalität. Sieht man genauer hin, ergründet man sich in der eigenen anormalen Normalität selbst, grinst die "Schule der Möglichkeiten" (Kierkegaard) angstvoll aus allen Gründen und Abgründen der Normalität in uns selbst und rund um uns selbst. Bürgerliche ´Normalität´ ist angstgetragen (hier finden sich übrigens auch der erste Grund allen Antisemitismus und der Fremdenangst allgemein). Die Angst, man könne jederzeit in die Grube fallen; jederzeit selbst wie ein halb oder ganz Ausgeschlossener behandelt werden; man befinde sich schon, was menschen- und gesellschaftstümlich immer zutrifft, mit einem Viertels-, einem halben oder einem Dreiviertels-Bein im Krankenhaus, der psychiatrischen Anstalt, dem Pflegeheim, dem Gefängnis, dem Abschiebelager u.ä.m. Orte, die ihrerseits normal/anormal in zulässige und unzulässige Aufenthalte geschieden werden. Je näher diese Orte in und außer uns rücken, desto mehr werden sie negativen Utopien jenseits der Normalität gleich entfernt.

Dort, wo die (geschaffen/gegebenen) A-Normalitäten wenigstens seit Beginn der Moderne am meisten ängstigen und darum am meisten normalitätsstrotzend ab- und ausgegrenzt werden, abgewehrt, ausgeschlossen und unterdrückt, gelangt man in ein immer erneut eingezäuntes Gebiet. Dieses trägt das Warnschild "Geistes- oder psychisch krank". Nicht von ungefähr kommt es, dass dieses Gebiet schon an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in europäisch-angelsächsischen Landen im Prozess der kapitalistisch-etatistischen Zivilisation zum einen als totale Kontroll-Institution außerhalb gesellschaftlicher Normalität eingerichtet worden ist. Keine Nähe sollte das schwierig machen. Zum anderen regten gerade die weggerückten, die gesellschaftlich ver-rückten "Geisteskranken" dazu an, utopisch perfekte Gesellschaften praktisch vorwegzunehmen. Das berühmte Panoptikum Benthams machte den Anfang. Die Eugenische ´Bewegung´ (!) seit Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrem nazistischen Höhepunkt bildet die Mitte. Die Humangenetische ´Bewegung´ unserer Tage trägt einstweilen die rote Laterne. Wie lässt sich eine Gesellschaft auf dem Weg zum Glück all ihrer Mehrheits-Individuen einrichten - im Lateinischen: ihrer Atome - , die alle Krankheiten, A-Normalitäten und vielleicht sogar das Alter vermeiden lässt? Dieses Versprechen des großen Descartes aus dem 3. Discours de la Methode mitten in der kriegsumschlungenen Barock ziert den Leitpfad der Moderne und ihre Sucht nach der unerträglichen Leichtigkeit des Seins seither. Pharma, Medizin, perfekte Sicherheiten aller Art sollen´s möglich machen. Die Art, wie die "Randgruppe" "Psychisch Kranke" - rechtstaatlich - ausgegrenzt, organisiert und traktiert wird, kann darum wie ein schaffender Spiegel der Normalität, ihrer Normen und ihrer sprachverräterischen Wirklichkeitskonstruktionen gebraucht werden.

Wie viel hat sich in der post-nationalsozialistischen BRD getan, seitdem mit denjenigen, die in die fast beliebig weit- und verengbare Gruppe der "Geisteskranken" abgeschoben wurde, keine tödlichen Experimente mehr durchgeführt werden und nicht mehr auf medizinische Weise getötet werden darf (s. Robert Lifton 1986). Freilich: der nationalsozialistische Umgang hatte nicht nur seine tief ins 18. und 19. Jahrhundert zurückreichenden zivilisatorischen Wurzeln. Vielmehr bestimmte er lange noch in seinen psychiatrischen Hauptvertretern und seinen Anstalten das bundesdeutsche Geschehen mit. Psychiatrische "Vergangenheitspolitik" bedeutete - wie für die Gründerjahre der Bundesrepublik allgemein (vgl. Norbert Frei 1996) - wenig mehr als die weitgehende Amnestie der gerade noch mörderisch tätigen, wissenschaftlich "unbescholtenen" Täter. Mit ihr verband sich die Fortsetzung von Recht und Praxis psychiatrischer Gewalt mit flacherem Profil. Heute, am Beginn des neuen Milleniums, so könnte man meinen, liest man rechtliche Bestimmungen, blättert in Lehrbüchern und Gutachten, beobachtet die insgesamt geschrumpften geschlossenen Anstalten und deren ´Krankenbehandlung´, hat sich fast alles zum grundrechtlich-liberaldemokratisch Besten verändert. Die Sprache indes verrät, auch wenn sie die Tarnkappe der Hilfe, anderer "humanitärer Interventionen" über die Ohren von Recht, Psychiatrie als Wissenschaft und Umgang mit "Geisteskranken" hat ziehen lassen (vgl. insgesamt trefflich Thilo von Trotha 2001).
- An erster Stelle steht nach wie vor die medizinisch wissenschaftliche Täuschung. Die Psychiatrie des Als Ob gibt vor, "wissenschaftlich" - und das heißt in ihrem Fall interessefrei und unpolitisch - präzise bezeichnen zu können, was das abweichende Verhalten beispielsweise derjenigen ausmacht, die gerichtlich einen Vermund verpasst erhalten, sprich, die entmündigt werden. Der genauen Diagnose gemäß verspricht die Psychiatrie therapieren zu können. Von selbst versteht sich: strikt und exklusiv zum "Wohl des Betreuten" (siehe BGB § 1996).

- Indem sie ihre eigene Objektivität behauptet, vom staatlichen Gewaltmonopol garantiert, objektiviert die Psychiatrie in ihren herrschenden Varianten nicht nur die Menschen zu potentiell und aktuell unmündigen Hilfsfällen, die sie in ihre Fänge bekommt. Vielmehr besteht ihre gesellschaftlich nicht weiter thematisierte Hauptaufgabe darin, die gesellschaftlichen Probleme zu individualisieren, die in abweichenden Verhaltensweisen von Menschen zum Ausdruck kommen. Diejenigen, die in unverrückter Normalität verrückt werden, sind, versteht sich, selbst schuld. Selbst-Leiden infolge von Gründen, die im Selbst liegen, nicht Leiden an der und durch die Gesellschaft, so lautet die psychiatrische Verfassungsprämisse. Sie wird allenfalls rationalisierend zur Disposition gestellt.

- Mit der existentiellen Definitionsmacht ihrer von keinem Gericht überprüfbaren Gutachten einerseits und mit apparativen, vor allem pharmakologischen Eingriffen andererseits werden psychiatrische Diagnose und Therapie zur (fast und nicht selten faktisch) totalen Institution, selbst wenn ihre "Probanten" nicht in geschlossenen Anstalten inkarzeriert sind. Hierbei ist zu beachten, dass psychologisch/psychiatrische Gutachten und Behandlungswirkungen weit über die Psychiatrie im engen Sinne hinausreichen. Das gesamte Strafrechts- und Gefängniswesen, das durch eine Fülle anderer Faktoren mit bestimmt wird, wird fast durchgehend, das heißt in jedem einzelnen Straf- und Haftfall von psychologisch/psychiatrischen Experten in nicht selten lebensentscheidenden Graden beeinflusst. Nicht nur überlappen sich geschlossene Psychiatrie und Haftanstalten im Falle einer Verurteilung nach den §§ 20 und 21 StGB (Zustand der Schuldunfähigkeit in vollem oder vermindertem Umfang). Entsprechende Normen gelten für die psychiatrischen Krankenhäuser (§§ 63 und 64 StGB). Sie tun es vor allem in der neuerdings ausgeweiteten "Sicherungsverwahrung", die nach verfassungsgerichtlich bestätigter Täuschung angeblich keinen Strafcharakter besitzt (s. §§ 66 und 66a StGB; vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie 2004). Psychiatrie als Profession und Institution ist an ihren entscheidenden Gelenkstellen von Norm, Profession und Praxis gewaltverknotet.

- In der nachnazistischen und der Nach-Gulag-Psychiatrie wurde zweifelsohne in der BRD und anderwärts gelernt. Darum stellen sprachliche Änderungen auch nicht nur einen symbolischen und in diesem Sinne täuschenden Psychiatrie-Herrschaftstrick dar. Auch Foucault´s wohlbegründetes, geradezu umfassendes Misstrauen kann in der Irre führen. Dass sublimere Regelungen, Ausdrucksformen und Techniken nur eine umfassend feinsinniger gewordene Herrschaft darstellten. Das psychiatrisch gespannte Rechtsnetz, das mit staatlich geborgten Zwangsspangen zusammengehalten wird und die ihm entsprechenden institutionellen Praktiken demonstrieren jedoch, wie wenig in der psychiatrischen Profession insgesamt von der nie bewältigbaren, jedoch vorwärts vermeidbaren Schuld "tödlichen Mitleids" (Dörner 1988) gelernt worden ist. Ein rares Ergebnis der nationalsozialistischen Erfahrung war am Beginn der BRD die konstitutive Normierung der Grund- und Menschenrechte als "unmittelbar geltende Rechte" (mit auf die staatlichen Institutionen begrenzter Bindekraft. Vgl. Art 1 Abs 3 GG). Diese Grund- und Menschenrechte wurden jedoch von Anfang an und werden heute im Zeichen des Sicherheitswahns, auch im Rahmen der Psychiatrie und ihres Rechtskranzes als Einstiegsrechte psychiatrisch-gerichtlich-behördlichen Schutzes umfunktioniert. Damit "Personen", wie es im "Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG MRW)vom 17. Dezember 1999" beispielsweise in § 1 heißt, "bei denen Anzeichen einer psychischen Krankheit bestehen, die psychisch erkrankt sind oder bei denen Folgen einer psychischen Krankheit fortbestehen", "Schutzmaßnahmen durch die untere Gesundheitsbehörde" angeordnet werden können - "Hilfen" genannt -, "soweit gewichtige Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung oder eine Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer" bestehen. Im 2. Absatz des ersten Paragraphen heißt es dann lichtvoll: "Psychische Krankheiten im Sinne dieses Gesetzes sind behandlungsbedürftige Psychosen sowie andere behandlungsbedürftige Störungen und Abhängigkeitserkrankungen von vergleichbarer Schwere."

Mordechai BrachiauII. Die Psychiatrisierung des Menschen als Gewaltvorgang
Nur neun Stationen will ich markieren. Ich verzichte darauf, obgleich dies vonnöten wäre, die psychiatrische Mikropolitik, Mikroökonomie und Mikrogewalt in die angemessenen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge zu stellen. Die Mikrophysik psychiatrischer Gewalt ist mit der Makrophysik neoliberaler Staatsgewalt auch über den Staat hinaus zu vermitteln.

1. An der Gewalt so hängt, zur Gewalt hin drängt doch schließlich - psychiatrisch - alles. Das ist der psychiatrische Zirkel als Gewaltzirkel oder als eigentümlicher circulus vitiosus. Alle Probleme, die psychiatrische Konzepte und Praktiken bis heute bereiten und, nimmt man menschliche Freiheit und Integrität ernst, bereiten muss, haben im Gewaltkern ihren Ursprung und ihr Ende. Wie anders sollte man sich gegen gegenseitige Hilfe unter Menschen kehren? Wie anders sollte man in dicht und zugleich abstrakt vergesellschafteten Kontexten, wie sie heute gegeben sind, institutionalisierte Hilfsvorkehrungen von vornherein ablehnen? Wie anders sollte man übersehen, dass manche Hilfeleistungen besonderer Kompetenzen bedürfen, die Personen gelten, die mit der konkurrenzhaft organisierten A-Sozialität ´unserer´, in diesem Sinne negativen Gesellschaften aus diversen Gründen nicht klar kommen?

2. Psychiatrische Gewalt ist geborgte, ist aller Hilfe radikal fremde Gewalt. Eine solche wurde in der Psychiatrie aufgehoben, will sagen dem Anscheine nach medizinisch beseitigt, sprachlich nach allen Regeln der Kunst vertuscht und zugleich, mit diesen Tarnkappen versehen, mehr oder minder sublim aufbewahrt. Geborgt hat Psychiatrie ihre Gewalt vom staatlichen Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit ( die Dauerspannung und folglich die Dauerkonflikte des Gewaltmonopols zu menschenrechtlich-demokratischen Verfassungsnormen sind in anderen Zusammenhängen zu erörtern). Schwerwiegender noch: Psychiatrie stellt ein Konnexmonopol staatlicher Gewalt dar. Diese Eigenschaft stellt nicht nur ihre wissenschaftliche, wahrheitsverpflichtete Fundierung von Grund auf in Frage. Psychiatrie ist bestenfalls eine "praktische Wissenschaft", wie Kant sie verstanden hat, also eine von vornherein staatlichen Diensten zuhandene, instrumentell zugespitzte ´Wissenschaft´. Darüberhinaus werden der psychiatrische Hilfsanspruch, also seine therapeutische Qualität ausgehöhlt. Psychiatrische Diagnose- und Therapiereichungen dienen als Instrument, eigenartig "A-normale", vielmehr als solche Bezeichnete und Ausgesonderte, auszusortieren und stillzustellen (wenn nicht, wie 12 Jahre in Deutschland inmitten einer vor- und nachschattenden Kontinuität lang: "ausmerzen", gemäß dem schlimmsten Verbum aus dem "Wörterbuch des Unmenschen" oder der LTI = Lingua Tertii Imperii vgl. Klemperer 1969 und Klemperer 1995). Das aber, was zwangsindividualisierte menschliche Normalität darstellt wird pseudowissenschaftlich am Modell des "erbgesunden Menschen" ausgerichtet. Diese Nazi-Passpartout teutonisch verrückter Art feiert im Zuge der Humangenetik und Eugenik längst wieder fröhliche Urständ.

3. Diagnosegewalt 1."Kofler, Notizen. Das freundliche Verhalten der meisten Psychiater zu ihren Patienten ist eine Mystifikation, denn die zur Schau getragene Freundlichkeit basiert auf keinem wirklichen Interesse an der Kommunikation mit dem Patienten. Der Psychiater, der der Ansicht ist, dass es sich bei der Psychose um eine organische Störung handelt, ist an inhaltlichen Mitteilungen des Patienten sowenig interessiert wie etwa ein Techniker an den Resultaten eines technisch gestörten Computers interessiert ist. Wenn er mit dem Patienten redet so nur, um herauszufinden, ob eine Störung vorliegt. Da der Patient kein Computer ist, muss er ein Interesse an ihm heucheln. Das aber wird von dem Patienten bemerkt und als ein Moment bewertet, ihn weiterhin durch Täuschung verrückt zu machen, denn das kennt er aus seiner bisherigen sozialen Umgebung" (Kipphardt 1988, S.75). Sind Heinar Kipphardts Beobachtungen, die er einer Romanfigur in den Mund legte, heute in den ungleich "aufgeklärteren" Zeiten überholt? Kaum! Wenn nicht qua technologisch, pharmakologischem Fortschritt im Gegenteil! Das Subjekt von Anamnese und Therapie, der Psychiater, seinerseits Subjekt im Sinne des Unterworfenen der Psychiatrie und ihrer professionellen und ökonomischen Institutionalisierung, tritt dem Patienten nicht als ein gleichrangiges Subjekt gegenüber. Letzterer wird zum Objekt. Anders müsste von Subjekt zu Subjekt "auf Augenhöhe" mit gleichen Karten gespielt und riskiert werden. Das kann und darf weder zeitlich, dem psychiatrischen Konzept, noch vor allem der psychiatrischen Funktion nach der Fall sein. Sonst könnten manche gesellschaftlichen Normalitäts-Ver-Rückungen dringend erforderlich sein. Die menschlich-menschenrechtliche Ver-Rücktheit der Normalität träte hervor.

4. Diagnosegewalt 2. Seit Jahrzehnten bin ich als "Freiwilliger sozialer Helfer" in Haftanstalten tätig. Sogenannt Lebenslängliche sind mein Plaisir. Einen derselben, bald drei Jahrzehnte hinter vergitterten Fenstern, fast mein eigenes, fortgeschrittenes Alter, traf ich jüngst mehr als üblich verwirrt an. In drei- oder schon vierjährigem gelegentlichem Umgang mit ihm, verstehe ich seinem krausen Humor nicht immer, hochintelligent wie er ist. Dieses Mal kam ich, von Satzfetzen abgesehen und meinerseits krausen Assoziationen überhaupt nicht mit. Obgleich ich ihn dringend ob seiner bald anstehenden psychiatrischen Begutachtung sprechen wollte und immer erneut mit ´seriösem´ Haltzeichen unterbrach, blieb erfolglos. Darum stand ich auf, was ich ansonsten, Gespräch abbrechend, nie tue, um über die diversen Kontrollstellen und hohe eisenstangige Tore durch den Ausgang zu entfleuchen. Demnächst wird also ´mein´ Ller, so die übliche Abkürzung, von einem renommierten Psychiater begutachtet werden. Das ist der übliche Vorgang. An allen Gelenkstellen lebenswichtiger Bedeutung, die über Haft und Freiheit entscheiden, treten Gutachter auf den Strafvollzugsplan. Diese verstärken die enorme Willkür, die die totale Institution Haftanstalt durchwest und deren peinliche Durchrechtlichung eigenartig aufhebt und funktionalisiert. Meine folgenden Fragen sollen darum nicht den Anschein erwecken, als akzeptierte ich die Funktion, die der Dunst, das Schmier- und Legitimationsöl der Gutachten spielen. Ich will nur unter der Prämisse der Gutachten zeigen, wie diese an einem Fall illustriert u.a. zustande kommen. Wird der Gutachter im Fall des Inhaftierten, um den ich mich besonders sorge, genügend Zeit haben, sich um das inkarzerierte Wirrsal zu kümmern? Wie ich höre, muss er allein in dem Gefängnistrakt, in dem ich zugange bin, in nächster Zeit ca. ein Dutzend Gutachten fertigen. Wird er, da er den "Ller" im Knast besucht - dieses Verhalten von Psychiatern werde ich nie verstehen, es demonstriert indes die frohgemute Partnerschaft in Monopolgewalt -, auch in der Lage sein, das, was das lange Gefängnishausen meines seltsamen, nahfernen Freundes angeht und seine Wirkungen auf ihn, herauszufinden? Wird er dies überhaupt tun wollen? Wird er erkennen, wie sehr die Wirrnis, zuweilen auch mit manchen aggressiven Splittern gemischt - nie gegen mich gerichtet, wohlgemerkt - vor allem dem absurden System der Freiheitsstrafe über bald 30 Jahre geschuldet ist? Dass es also höchste, nämlich letzte Zeit ist, die im Leben des "Llers" nicht wiederkehrt, diesen bald Mitte-sechzig-Jährigen endlich auf freien Fuß zu setzen? Meine Skepsis ist ohnmächtig groß. Nicht nur, weil ich andere Gutachten des bekannten und in seiner Weise tüchtigen Kollegen mit erheblichem Bauchweh über seine Art gelesen habe, "verknastete" Menschen zu diagnostizieren und ihre Zukunft vorherzusehen. Welche Wirklichkeiten und eigene Grenzen werden psychiatrisch gar nicht erst wahrgenommen! Nicht nur, weil die knappe ´Ökonomie der Zeit´ und der übliche Diagnoseort, auch das von vornherein feststehende, schiefgewichtige, ja hierarchisch gewaltgeladene Subjekt-Objekt-Verhältnis allen so tätigen Psychiatern und Psychologen kaum genügend eigene Freiheitsgrade in Diagnose und Prognose geben. Mich ängstigt vor allem, wie wenig dieser mir persönlich nicht bekannte Kollege offenkundig daran interessiert ist, dem psychiatrisch fast unvermeidlichen Wirklichkeitsverlust zu entgehen, indem er, beispielsweise mit mir, vertraulich und unverbindlich Kontakt aufgenommen hätte - ich habe ihm solches vergebens angeboten. Diese kleine, für ´meinen´ Ller freilich lebensentscheidende Geschichte erzähle ich in wenigen Ausschnitten nur deshalb, weil sie die Diagnose-(Therapie-) und Prognoseverfehlung psychiatrischen Umgangs mit problembehangenen Menschen demonstriert. Auch, wohlgemerkt, die riesige, jedoch schier unverantwortliche Gewalt dieser so feinsinnigen Profession. Der Strafvollzug und schon die Strafverfahren zuvor werden insgesamt durch die Einmischung der Psychiatrie/Psychologie in aller Regel in ihrer ohnehin prekären Rechtssicherheit verschmiert. Die psychiatrischen Gutachter werden, ob sie es persönlich wollen oder nicht, zu einem Teil der Haftanstalt. Dieser verletzt die Integrität der Inhaftierten ungleich mehr als deren, zunächst ´äußerlich´ bleibende repressive Vorkehrungen. Verweigert sich ein Inhaftierter den ein- und zudringlichen Gutachtern, weil er deren fragwürdigem ´Innenblick´, menschenrechtlich angemessen, misstraut, dann schwinden seine Chancen, den Knast zu verlassen. In diesem Sinne bedeutet die Gutachterei eine Strafvermehrung, die in jeder Weise Grund- und Menschenrechte verletzt.

5. Hilfszwang. Das machen die diversen PsychKGs der bundesdeutschen Länder in geradezu zentralstaatlicher Geschlossenheit kund, was ähnlich in den Regelungen der Vormundschaft, der freiwilligen Gerichtsbarkeit und anderwärts auftaucht: dass, wie ich oben schon aus § 1 des nordrhein-westfälischen PsychKG zitiert habe, Personen, "bei denen Anzeichen einer psychischen Krankheit bestehen" und Gefahren für sich oder andere vermutet werden, die Eigenschaft verlieren, die sie erst zu Personen macht: ihre selbstbestimmte Freiheit. Die Pauschalität mit der "Selbstgefährdung oder eine Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer" Zwangsmaßnahmen und Zwangseingriffe erlauben, spottet, strikt rechtsimmanent betrachtet, aller rechtssicheren Berechenbarkeit. Die sonst monstranzhaft hochgehaltenen Grundrechte werden als vernachlässigbare Größe nicht einmal mehr erwähnt. So dies doch geschieht, dann werden sie so unverbindlich angeführt, dass sie auch in der sowjetisch-stalinistischen Verfassung von 1936 hätten stehen können. O ihr "unmittelbar geltenden Rechte"! Fast alle gesetzlich einschlägigen, psychiatrietriftigen Normierungen können nicht anders bezeichnet werden, als Ermächtigungsgesetze der Behörden und dafür kompetent gehaltenen Professionen, der Psychiatrie an erster Stelle. Diese können fast tun, was sie wollen. Sie müssen allein die Maschinerie der angemessenen Rationalisierungen richtig anwerfen.

6. Gewalt macht den Begriff der Krankheit krank. Die Zustände der Menschen, die sie zwangsversorgen lassen sollen, werden mit so vagen Etiketten bezeichnet, dass fast alle Verhaltensweisen dazu psychiatrisch passend gemacht werden können. Sammelbezeichnungen a la "Psychosen" oder "psychische Störungen" eröffnen einen schier unbegrenzten psychiatrischen Definitionsraum. Dieses fast grenzenlose Ermessen gilt auch für den entscheidenden Schluss des Gewalteinsatzes: Selbst- und Fremdgefährdung. Es findet sich in den PsychKGs und den anderen einschlägigen Formulierungen rechtlicher Fangnetze a la Betreuung, Mündigkeit und Gerichtsbarkeit nicht einmal der Versuch, genauer zu spezifizieren, an Hand welcher Indizien und mit Hilfe welcher Methoden und Verfahren geschlossen werden darf, dass eine Person als "psychisch krank" erklärt werden könne. Gleichermaßen fahndet man vergebens danach, wie Selbst- und Fremdgefährdung erkannt, eingeschätzt und die ausweisbaren ´Erkenntnisse´ zu entmündigenden Konsequenzen verbunden werden. Alles, aber nahezu alles spielt sich im kompetent-dunklen Schoss der Psychiatrie und der ihr zuhandenen Ämter ab. In diesem Definitionszusammenhang spielt Herrschaft in sprachlichen Formen mit gewalttätigen Folgen ein Mehrfachpassspiel. Menschen, die sich in den Kanon der Normalität(en) nicht einzufügen vermögen, haben nicht selten Schwierigkeiten sich auszudrücken. Diesen Ausdrucksschwierigkeiten tritt die Psychiatrie als Vertreterin des Gewaltmonopols mit großen sprachlichen Fangsäcken gegenüber. Negative Betroffene wie andere Beobachter oder gar Kritiker werden in der Regel schon sprachlich mit Hilfe der hanebüchen vagen psychiatrisch-medizinischen Terminologie schachmatt gesetzt . Ihrer sind die Krankheits-, ihrer sind die Gefährdungsbegriffe. Schließlich vermag sie je nach Anamnese den "psychotischen" Sack mit einem Band, das "Gefahr !leuchtet", zuzubinden und zur Behandlung fortzuschreiten. Sie kann den Sack einstweilen auch herunterziehen und den Patienten rundum selbst- und mitbestimmungslos einstweilen von dannen schicken. Wird bei "physischen" Erkrankungen prinzipiell wenigstens noch die Eigenbestimmung der Bürgerpatienten unterstellt, wenngleich der bürokratisch-medizinisch-technologische Komplex dagegen funktioniert, so sind die sogenannt psychisch Erkrankten von vornherein ihrer Selbst- und Mitbestimmung selbst dort enteignet, wo sie ihnen formell zugestanden wird. Sehen sie nämlich ihre Probleme und die angeblichen Gefahren anders, die sie darstellen, die von ihnen angeblich ausgehen, als die Wahrheit sprechende und praktizierende Psychiatrie, dann zeigen sie damit, wie krank sie sind und welche Gefährdung für sich und andere sie darstellen. Das Alpha und Omega der "psychisch Kranken" stellt die Psychiatrie als Instanz des staatlichen Gewaltmonopols dar, nicht die Personen, denen sie angeblich helfen will und soll. Die Psychiatrie schaff sicht ihre Kranken. Schlimmerweise handelt es sich nicht um eine Schaffung aus dem Nichts. Die Kreation geschieht mit lebendigem menschlichen "Stoff". Die Person ist entmündigt worden, schon bevor der entsprechende (Un-)Rechtsakt erfolgt.

7. Was nützt der ´an sich´ zentrale Artikel 2 des Grundgesetzes, in dem die wichtigste menschenrechtliche Norm formuliert ist? "(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden." Verstoßen diejenigen, die als "psychisch krank" zwangsetikettiert werden, gegen das - ungeschriebene und historisch wandelnd gerichtsfestgelegte "Sitten-gesetz"? Sind die diversen zwangspsychiatrisch einschlägigen Gesetze der Ausdruck des Gesetzesvorbehalts wie er am Ende des 2. Absatzes einigermaßen paradox statuiert worden ist? Auf der einen Seite soll "die Freiheit der Person" "unverletzlich" sein. Auf der anderen Seite darf in sie "auf Grund eines Gesetzes" je nach Gusto parlamentarischer Mehrheiten eingegriffen werden. Wird das Grundrecht des Artikels 2 GG nicht in seinem "Wesensgehalt" berührt - das ist nach Art.19 Abs.2 GG ausgeschlossen -, wenn wenigstens in dreifacher Weise mit psychiatrischer Gewalt in die Integrität der "psychisch krank" Erklärten eingegriffen wird? In der Form von Gutachten, in denen eine integre Person zum Objekt wird und mit einer psychischen Krankheit pauschal etikettiert wird, zum ersten. Zum zweiten in der Art des gewalttätigen Festhaltens in einer dahingehend nach wie vor totalen Institution, mögen auch die Zwangsanstalten früherer Tage aufgelöst sein. Notfalls wird gefesselt. Notfalls werden die Türen verriegelt. In der Verabreichung von Drogen a la Psychopharmaka u.ä., gar der Verwendung anderer, angeblich therapeutisch nötiger Techniken a la Elektroschockbehandlung. Heiner Kipphardt alias "März" redet in diesem Zusammenhang von einer "Konkurs-situation der gewöhnlichen Anstaltspsychiatrie" (Kipphardt 1988, S.96). Diese Konkurssituation besteht bis heute über den gewalttätigen Begleitschatten hinaus darin, dass die angeblich "psychische" Krankheit mit mehr oder minder unmittelbar physischen Mitteln traktiert wird. In diesem Widerspruch hebt sich die Psychiatrie als "wissenschaftlich" begründete Praxis geradezu selber auf.

8. Von der psychiatrisch ausgelegten Schlinge war schon die Rede, in der sich jede und jeder fangen muss, der bedürftig in näheren Kontakt mit der Psychiatrie als einer Institution kommt oder schon gezwungen wird. Sie ist in der Kennungsliste psychiatrischer Gewalt jedoch noch einmal eigens zu nennen. Ein gesundheitsbehördlich oder von dritter Seite als psychisch gestört erkannte (Noch-)Person will sich nicht behandeln lassen. Nach psychiatrischer Logik lautet die Folge: gerade diese mangelnde Einsicht belegt, wie weit der Zustand der Krankheit fortgeschritten ist. Selbstbestimmung ist erkenntlich ausgeschlossen. Gleiche Schlüsse werden psychiatrielogisch gezogen, will sich jemand, entsprechend etikettiert, nicht in einem psychiatrischen Krankenhaus halten oder sich nicht mit den wundersamen Heilmitteln spritzen lassen. Die Eingriffsgewalt verletzt die Integrität des Menschen im dritten Fall in besonderem Masse, weil die Effekte der verabreichten Pharmaka von der im Hinblick auf die psychiatrisierten Objekte, bestenfalls Nicht-mehr-ganz-Personen, geradezu prognosetrunkene Psychiatrie im Hinblick auf ihre eigene Tätigkeit nicht vorhergesehen werden oder die Prognose keinerlei Rolle spielt.

9. Gewalt erhöhende Kooperation von Psychiatrie und Judikative. Die Dritte Gewalt, die Judikative, ist im Rahmen der Staatsverfassung dazu da, im Fall der BRD des Grundgesetzes, darüber zu wachen, dass Legislative und Exekutive die Gesetze verfassungsgemäß verabschieden und anwenden. Im Rahmen von Psychiatrie und Recht/Judikative wird aus der Kontrolle, die zuweilen auch wechselweise gelten kann, eine Verstärkung der Gewaltwirkung dieser beiden Monopoleinrichtungen. Die Judikative ist in Gefahr - viele Fälle, die die Aussage ´in der Regel´ zulassen, bestätigen diese -, sich ihre Rechtsfindung von psychiatrischen Gutachten vorgeben zu lassen. Darunter leidet die strikte Auslegung des grundrechtlichen Selbstbestimmungsprinzips aller Menschen. Krankheits- und Gefahrendia- und prognosen psychiatrisieren gleichsam das personale Selbstbestimmungsprinzip, den Eckstein aller Grund- und Menschenrechte. Geschehen kann es auch, dass Gerichte, insbesondere im Rahmen von Strafverfahren, Gutachten dazu missbrauchen, um klar und eindeutig zu identifizierende Tatbestände mit allen möglichen (d.h. gerichtlich unmöglichen) Tätervermutungen und Täterpsychologemen aufzuweichen oder deren Mangel in Indizienprozessen zu beheben. Strafrechtliche Änderungen, wie beispielsweise schon der nazistische Mord=Mörderparagraph 211 StGB, die das Strafrecht mit moralischen Vor-Urteilen durchsetzen und die Meinungen und Intentionen Angeklagter in die Anklage und Urteilsfindung einbeziehen, arbeiten dieser lichtdunklen Mischung zuungunsten der Angeklagten zu.. Das psychiatrisch einschlägige Recht strotzt vor unbestimmten Rechtsbegriffen. Dementsprechend dehnt sich die gerichtlich allenfalls zusätzlich sanktionierte Gewalt der Psychiatrie (trotz vieler neuerer Entwicklungen nach wie vor zutreffend: Walter Kargl 1977. Siehe dort auch das Lob des Urteils des OLG zu Leipzig vom 14. Juli 1902. Dieses hob die Entmündigung Dr. jur. Daniel Paul Schrebers auf. Die vom Gericht nicht bezweifelte "Geisteskrankheit" rechtfertige für sich genommen keine Internierungsmaßnahme oder Entmündigung. Wörtlich: "Die gegen den Willen des Patienten auftretenden Tobsuchtsanfälle sind kein hinreichender Grund für die Entmündigung des Patienten." Kargl kommentiert u.a.: "..in den folgenden 75 Jahren - sie muss man heute auf über 100 Jahre ausdehnen, WDN - (habe) die deutsche Rechtssprechung niemals mehr den liberalen Stand der damaligen Schlussfolgerung, das unverkennbare Ethos hinsichtlich der ´Freiheit der Person´" erreicht. "Das OLG Dresden hatte jenen Hiatus zwischen dem Wahnsinn als m e d i z i n i s c h e m Problem und der Einsperrung als j u r i s t i s c h e m Problem gesehen; es hatte aus seinem Misstrauen gegenüber der obligaten Gleichsetzung von Internierung und Behandlung keinen Hehl gemacht, es hatte im Dilemma der ´therapeutischen Zwangsbeglückung´(Dörner) für das kranke Individuum Stellung bezogen und sich nicht aus der eigenen Verantwortung entlassen, es hatte Schrebers gestörte Menschlichkeit und deren Ringen nach Wiederherstellung in seltener Einfühlung ernst genommen.").

10. Zusammenfassung: kleines Urteil über die Gewalt-/Zwangspsychiatrie samt Empfehlung. Dass die Psychiatrie und ihre Vertreterinnen und Vertreter so sind wie sie sind, dass sie den Bruch zur nazistischen und zur viel tiefer reichenden eugenischen Vergangenheit samt ihren wandelnden, jedoch allemal herrschaftskonformen Normalitätsschemata nicht radikal vollzogen haben - das gilt mit entsprechenden Veränderungen auch außerhalb der BRD -, liegt selbstredend nicht an der Psychiatrie als Institution und ihren professionellem Kranz primär. Das hat Ursachen in der BRD und weit darüber hinaus Ursachen im politisch-staatlich organisierten Kapitalismus zwischenzeitlich global erstreckter Art. Hier will ich jedoch nicht in die Ferne schweifen, wo das menschlich, gesamtgesellschaftlich und menschenrechtlich demokratisch Gebotene so nahe liegt. Wollen diejenigen, die Psychiatrie in einem weiten Sinne als ihren Beruf betreiben, diesem ihrem Beruf irgend gerecht werden, der mit Hilfe für Menschen wie jede Psychiaterin und jeden Psychiater selbst angeht und mit Hilfe für solche Menschen wie uns selbst endet, dann können sie dies nur tun, wenn sie sich ohne Wenn und Aber, tatsächlich radikal, nämlich mit allen Wurzeln ihres Berufs von allem Zwang lösen. Erst dann haben sie sich selbst zur Hilfe emanzipiert und legitimiert. Der Probleme, Unwägbarkeiten und Risiken sind genug: indes erst mit der Freiheit von Zwang, der Anerkennung der Selbstbestimmung des Menschen, auch wo er wie wir alle Normalitätsmängel in einer mängeldurchsetzten Normalität zeigen mag, wird so etwas möglich wie eine dann qualitativ anderer Beruf der Psychiatrie. Sie hätte die Antipsychiatrie ein Gutstück in sich aufgehoben. Solange diese Utopie keinen Ort in der Wirklichkeit gefunden hat, gilt menschenrechtlich der Kampf gegen die Gewalt-/Zwangspsychiatrie. Kompromisse kompromittierten nur die Menschenrechte und diejenigen, die ihrer bedürfen, die Menschen, die Ärmsten der Armen, die Mühseligsten der Mühseligen am meisten. Diese aber stehen an der Spitze praktischer Menschenrechte weit über allem Staat.

III. Psychiatrie und Folter
Weil Normalität herrscht, weil sie nicht zuletzt mit Zwangsmitteln herrscht, werden diejenigen, die ihr nicht entsprechen, die ihr sogar widerstehen, spracharm und öffentlich unwirksam gehalten. Darum durchziehen Kämpfe um Sprache und Öffentlichkeit auch die neuere Geschichte, wenn nicht ohnmächtig zur Gegengewalt geflohen wird. Diese allgemeine Beobachtung gilt besonders für diejenigen, die der Psychiatrie als Teil staatlichen Gewaltmonopols ausgesetzt sind und dieser Aussetzung widerstreben. Um gegenwärtig überhaupt gehört zu werden, haben darum Freundinnen und Freunde von mir nicht zuletzt im Zuge der neuerlich bekannt gewordenen Folterfälle regierungsamtlich gedeckter, wenn nicht erzeugter Art von Frankfurter Polizeipräsidenten bis amerikanischen Soldaten im Irak - von der ´strukturellen´ und aktuellen Folter in Guantanamo und in ´normalen´ innerstaatlichen Gefängnissen der westlich "zivilisierten" Welt zu schweigen -, auf die Ähnlichkeiten, wenn nicht Ana-Logien, sprich gleiche Behandlungslogiken von Folter und zwangspsychiatrischer Behandlung aufmerksam gemacht. Indem sie dies taten und tun, wollen sie mit gutem Grund auf den unter anderem bundesdeutsche Normalität gewordenen Skandal aufmerksam machen, den fast alle von uns unterschiedlich ´Normalen´ mühelos ertragen. Den oben etwas näher beschriebenen (s. II.) Skandal der psychiatrischen Zwangsbehandlung, Verletzung, Manipulation und Erniedrigung von Menschen in Nöten. Und diese Zwangsbehandlung mitten unter uns, die als Wissenschaft und Praxis ihr gutes Renommee und ihr fröhliches Auskommen haben, wird hingenommen: weil - wie schon eingangs geschildert - die (pseudo-)wissenschaftliche Definitionsmacht, vom staatlichen Gewaltmonopol bestätigt und verlängert, im Dominanzinteresse der "normalen" Gesellschaft liegt und (fast) unser aller Ängste auch und gerade vor unseren eigenen Abgründen hemmt.
Dieses Bestreben, die selbstverführerische und falsch legitimierende Hilfsmaske abzureißen, die menschenrechtliche Doppelmoral oder die gespaltenen Menschenrechte von fast allen von uns darzutun, vertrete ich selbst und unterstütze es nachdrücklich. Ich will darum zum komplexen Thema dieses Abschnittes "Folter und Psychiatrie" einige wenige, eher stichwortartige Anmerkungen anfügen. Eine ausführlichere Auseinandersetzung, die ich vorgesehen hatte, muss ich aus Platz- und Zeitgründen entfallen lassen.

1. Gerade weil das, was Sprache und ihre Ausdrücke aktuell bezeichnen, gesellschaftlich geschaffen und überkommen sind und sich, wie jede Gesellschaft verändern, sollte man Begriffe, will man gegenseitige Verständigung gewährleisten, möglichst genau benutzen und nur dann verändern, wenn dies gegen die Konvention vonnöten ist - wie andere sprachliche Sachverhalte bis zur gegenwärtig im Deutschen umstrittenen Rechtsschreibung.

2. Das heißt nicht, dass vielfach zu eng gebrauchte Begriffe, nicht immer wieder geweitet werden müssten (oder zu vage formulierte, was in Sachen Grund- und Menschenrechte allzu oft der Fall ist, präziser fassen). Die herrschende Konvention, die wir alle meist zunächst qua Aufwachsen in einer Sprache (oder deren fremdsprachiges Lernen) vorbewusst übernehmen, kann die Sprache so zugerichtet haben, dass sie viele, herrschaftlich störende Phänomene nicht wahrnehmen lässt oder nur wie bittre Pillen in versüßter Form erkennbar macht. Darum ist die Herrschaft nicht nur mit Hilfe der Sprache, sondern über die Sprache, darum sind die "Formeln der Macht" so allgemein. Darum ist es für das Selbstbewusstsein und die Selbstbestimmung aller Menschen so wichtig, herrschaftssprachliche Ausdrucks- und Verdeckungsverhalte zu durchschauen.

3. Wie eingangs schon angeritzt, ist die Herrschaft qua Sprache gerade im Umkreis der Psychiatrie im besonderen und des staatlichen Gewaltmonopols im allgemeinen strukturell und aktuell gegeben. Darum hat beispielsweise Michel Foucault neuerdings - vor dem Hintergrund vieler vorgängigen Kritiker - zu recht, den Machtbegriff ausgeweitet. Er hat gezeigt, dass Machtprozesse und Machtkämpfe in allen möglichen Bereichen gerade mitten in und durch die Wissenschaften und ihre Zeichen und Sprache geübt wird. Er hat - "genealogisch" -verfolgt, wie Herrschaft sich im Riesenbereich von gesellschaftlicher Formierung von Sexualität und Wissen entwickelt und nicht mehr erkenntlich ist, wenn man nur auf aktuelle Einrichtungen starrt. Er hat im engeren Bereich der Psychiatrie aufgedeckt, in welchem Ausmaße sich deren Kontrolle ausdehnt, indem anscheinshaft ihre Mittel sublimer werden. Ähnlich hat vor Jahrzehnten Johan Galtung den Begriff der "strukturellen Gewalt" geprägt. Dessen Gebrauch begründete zeitweise sogar Berufsverbote. Mit diesem Ausdruck wollte er darauf aufmerksam machen, dass geschichtliche entwickelte Strukturen und Institutionen, die wir alle wie selbstverständlich hinnehmen, wie lange die Differenzen zwischen den Geschlechtern oder bis heute zwischen "Arbeitgebern" und "Arbeitnehmern", zwischen "Reichen" und "Armen" oder Formen staatlicher Sicherung und Gewalt, nicht nur gesellschaftlich ´gewählt´ sind und spezifischen Interessen sich verdanken. Diese "Gegebenheiten" haben auch zur Folge, dass den allgemein vertretenen Menschenrechten weithin das soziale und ökonomische Fundament fehlt.

4. Betrachtet man, so vorbereitet, das Thema "Psychiatrie und Folter", dann wird bei genauem Hinsehen deutlich, wie viele Analogien zu beobachten sind. Darum ist es zu einem guten Teil berechtigt, der psychiatrischen Gewalt die Folterschelle umzuhängen. Damit endlich hören kann, wer noch Ohren hat, zu hören, was im Zusammenhang psychiatrischer Gewalt menschenrechtswidrig geschieht. Während die Folter, die meist nur "die anderen" üben, fast allgemein als "zivilisationswidrig" verdammt wird, während "absolute" Folterverbote mit Ausrufezeichen vertreten werden, lebt die - glücklicherweise - große Mehrheit derjenigen, die Folter eindeutig und klar verdammen, ´gemütlich´ mit alltäglicher, aber eben randständiger, wissenschaftlich und anstaltsförmig "seriös" abgekapselter psychiatrischer Gewalt. Freilich, obwohl uralt, ist der Folterbegriff nicht eindeutig. Weitgehende Übereinstimmung herrscht nur darin, dass die Folterer, meist in direktem oder indirektem staatlichen Auftrag handeln(oder dem Auftrag einer etablierten Herrschaft a la Katholische Kirche im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit). Sie fügen den Menschen, die sie foltern im wörtlichen Sinne
u n s ä g l i c h e Schmerzen hinzu (vgl. insbes. Elaine Scarry 1986). Sie verbinden mit diesem grausamen Sadismus, der die Gefolterten zu leidensfähigen Objekten degradiert - noch über die Sklavenbehandlung als stimmbegabte Instrumente hinaus -, das Verlangen, dass die Gefolterten in welcher noch möglichen Lautform immer, sich als irgendwelche Sünder oder Täter selbst bezichtigen oder eine Sache oder andere verraten oder Ähnliches. Hierbei zeigen die Untersuchungen von Folterern und Gefolterten, dass diese Auskünfte, derethalben angeblich gefoltert wird - um dringende Gefahren abzuwenden etwa oder einen Täter wie in Frankfurt jüngst aufzufinden -, weithin irrelevant sind, von ihrer fragwürdigen Stimmigkeit zu schweigen. Primär ist die in diesem Falle wahrhaft totale Machtausübung über einen Menschen oder in kollektiver Folterfolge über eine Menschengruppe. Darum auch die Rolle von Foltern in den KZs und in den sowjetischen Lagern. Primär ist die systematische Erniedrigung, die Entmenschlichung der Gefolterten, die auf die Folterer als entmenschlichte Sieger zurückwirkt. Weil, wenn nicht der physische, so doch der soziale Tod angestrebt wird, ist es den überlebenden Opfern meist unmöglich wieder irgend "normal" in einem unproblematischen Sinne des Worts zu werden. Besteht der Herrschaftskern, mit Hegel etwas vormodern ausgedrückt, im Verhältnis Herr-Knecht/Magd, das sich dann im Herrschaftsapparat versachlicht - und zwischen den Herren und Knechten/Mägden bestehen Wechselbeziehungen, so strukturell ungleich die Befehls- und Gehorsams-, die Leistungsverteilung sind -, so besteht der Folterkern in der radikalen Aufhebung aller Kommunikation, ein humanes, wenigstens minimal wirksames Wechselverhältnis ist nicht mehr gegeben. Folterer und Gefolteter sind beides Menschen und zugleich schier reine sadistische Täter und reine Opfer (die Interpretation dieser zwangsweisen Nichtbeziehung geschieht bei überlebenden Opfern verschieden; vgl. etwas Jean Amery einerseits, 1980 und Primo Levi andererseits: 1988 und 1988; zum Folterbegriff siehe insgesamt Edward Peters 1985).

5. Psychiatrisch-medizinische Instrumente werden in Folterungen häufig eingesetzt. Das allein macht jedoch noch nicht deren allzu nahe Parallelen aus. Psychiatrische Zwangsgewalt objektiviert die "psychisch Kranken" gleicherweise. Sie ist es, die die "Krankheit" des psychiatrisch Ausgesetzten definiert und sie als unentrinnbare Lebendfalle konstruiert. Psychiatrie übt einseitige, staatlich-öffentlich beliehene Gewalt aus. Die Integrität des "krank" Unterworfenen wird ohne zureichende Grenze verletzt. Das Ziel des grossen Asklepios, die restitutio in integrum, der Wiederherstellung menschlicher Unversehrtheit erscheint vorgeschoben. Damit das Ziel, die Wiederherstellung der Integrität, bestehen könne, darf die Integrität nicht irreparabel verletzt, darf die Selbstbestimmung nicht aufgehoben werden.

6. Könnte ich genauer vergleichen, könnte ich, so weh das einem selbst tut, weil man solche Fälle nicht ´unbeschädigt´ an Leib und Seele auskundschaften kann, Folteropfer und Opfer psychiatrischen Zwangs in einzelnen Etappen der Objektivierung und der Entmündigung untersuchen, dann träten einige Parallelen noch deutlicher hervor.

IV. Einige wenige, schlagsatzartige Schlussfolgerungen:
Die Zwangspsychiatrie ist abzuschaffen - mit allen nicht gewaltförmigen Mitteln, sofort

1. Das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen ist uneingeschränkt zu wahren. Ohne Selbstbestimmung sind alle Würde- und Unversehrtheits- und Freiheitsformeln, die die Grund- und Menschenrechte durchziehen, nichts anderes als hölzerne Eisen. Menschenrechte sind als aktive Rechte zu begreifen. Menschenrechte sind nicht etwas, das man staatsgnädig oder auch staatsrechtlich erhält, sondern etwas, das jeder Mensch selbst mitbestimmen und mitschaffen können muss. Hierbei versteht sich unter Menschen von selbst, dass auch Selbstbestimmung riskant ist und bleibt. Sie kann nicht absolut versichert werden. Sie darf jedoch auch bei Irrtümern, Fehlverhalten u.ä.m. nicht und nie aufgehoben werden. Es sei denn man entmensche Menschen übermenschlich.

2. Zwang von irgendeiner Institution und ihren Vertretern ist unzulässig. Kein kleiner Finger des Zwangs darf gegeben werden. Die selbstbestimmte und allein durch Selbstbestimmung mögliche Freiheit, die jeden Menschen erst zur Person werden lässt, darf nicht von anderen Menschen zwangsbegrenzt werden. Freiheit besteht bis zum Selbsttod. Dieser unbedingten Selbstbestimmung entspricht ein "positiver" Freiheitsbegriff, der den anderen wie sich selbst wahrnimmt (hierin besteht das größte Problem in Gesellschaften wie den gegenwärtigen, in denen ein negativer Freiheitsbegriff, der ideologisch liberal - neoliberale, im Sinne der Willkür- oder Ellbogenfreiheit dominiert). Aus dieser notwendigen Korrespondenz zum anderen folgt das Postulat durchgehender Mitbestimmung in den sozialen Kontexten, die jeden einzelnen bestimmen. Daraus folgt zusätzlich, dass es sozialer, wiederum mitbestimmter Vorkehrungen bedarf, wenn einzelne andere gewalttätig gefährden. Solche Vorkehrungen sind aber nicht in Form von Zwangseinrichtungen und Zwangsmassnahmen nötig und zulässig.

3. Das, was an gegenwärtigen psychiatrischen Hilfsangeboten akzeptabel sein könnte, ist nur akzeptabel in einer qualitativ veränderten Psychiatrie. Diese geht radikal ohne Zwang vor. Das ist die Herausforderung von Hilfeleistungen, dass sie erbracht werden müssen, ohne letztlich oder, wie psychiatrisch nicht selten, erstlich mit dem gewalttätigen Zwangsinstrument drohen und arbeiten zu können. Eine vom Zwang emanzipierte Hilfe, die darum auch herrschende Normalität nicht als unbefragten Kanon hinnehmen kann, muss selbstredend auf alle geschlossenen Institutionen und Zwangsvollzüge verzichten. Der Hilfsraum ist immer so zu gestalten, dass er Eigenräume erlaubt.

4. Keines der einschlägigen Gesetze im Hinblick auf die sogenannt psychisch Kranken ist zu halten. Auch dort, wo neuerliche Gesetzesvorschläge erfreulicherweise die Selbstbestimmung jedes einzelnen uneingeschränkt betonen, fehlen die Konsequenzen in den nachrangigen Institutionen. Es fehlen auch folgenreiche Überlegungen dazu, welcher sozialen und demokratischen Voraussetzungen es bedarf, damit jede Person auch tatsächlich selbst bestimmen könne. Nicht nur ist jeder Vorgang der Hilfe, um den jede Person selbst ersucht, die sich hilfsbedürftig fühlt, so zu organisieren, dass durchgängig Mitbestimmung garantiert ist; vielmehr darf keine Hilfe etwa in Form von Pharmaka verabreicht werden, die nicht ihrerseits von der Person gewollt wird, die sie ´nimmt´. Zureichende Aufklärung ist jeweils unabdingbar.

5. So sehr Selbstbestimmung das Alpha und Omega aller Hilfe darstellt, so sehr kommt es darauf an, die Person, die Hilfe will und braucht, nicht allein zu lassen. Angesichts des heutigen medizinisch-bürokratisch-ökonomisch/technologischen Komplexes bleibt der Rekurs auf das Selbstbestimmungsrecht abstrakt, wenn nicht ein Doppeltes geschieht. Zum einen sind die riesigen Komplexe weitgehend zu entflechten und zu kommunalisieren. Koordinierende Instanzen oberhalb der lokalen Ebene bleiben erforderlich. Zum anderen ist die gesamte Organisierung der Hilfen - von unten nach oben mitbestimmt - so anzulegen, dass der einzelne nie vereinzelt wird. Er oder sie kann, soll und muss selbstbestimmen. Sie oder er haben jedoch auf allen Ebenen Bezugspersonen, die ihnen zu helfen, die sie notfalls zu vertreten vermögen. Die bürokratische Logik, die bei erheblichen Größenordnungen unvermeidlich triumphiert, ist keine der Hilfe. Hilfe zur Selbsthilfe setzt voraus, dass das Selbst qua entsprechenden sozialen Bedingungen sich entwickeln und agieren kann. Außerdem ist es schon ein Akteur der Hilfe und nicht deren dann vergebliches Ergebnics.

Schrei, wenn und solange du kannst. Die am Ende aufgelisteten Postulate, die erst noch konkret organisierend zu übersetzen wären, klingen unter den gegenwärtigen Bedingungen nahezu illusionär. Dies ist der Fall, obwohl sie nur Mindeststandards setzen. Das ist die Lage. Dennoch sind die grundsätzlichen, jeweils konkret zu verwirklichenden Forderungen, nicht zu verwässern. Sie zeigen nur die Mühe, die es macht, die Ängste, die in der Normalität stecken, abzubauen. Eine Pluralität der Normalitäten, aufs innigste, aufs menschenrechtlichste zu wünschen, setzt diesen Angstabbau voraus. Dieser Abbau der Ängste erst, die in der herrschenden Normalität stecken, befreit zu gegenseitiger Hilfe befreit. Sonst gilt weiterhin, Mauern bauend, Gewalt und Zwang übend die Angstschweiß treibende Devise: Fürchte den Nächsten wie dich selbst (s. Parin/Morgenthaler/ Matthey-Parin 1975).


Amery, Jean, 1980: Die Tortur, in: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwälrigten, Stuttgart, s.46-73.
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Klemperer, Victor, 1969: "LTI. Die unbewältigte Sprache, München.
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Peters, Edward, 1985: Torture, New York.

NSDAP Poster

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Wolf-Dieter Narr

Wolf-Dieter Narr, Jg. 1937, lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für Politische Wissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Von seinen zahlreichen Engagements seien nur ein paar erwähnt: 1971 gründete er u.a. mit Heinrich Albertz und Helmut Gollwitzer das Iran-Komitee. 1978 war ernach dem „Russell Tribunal zu den Berufsverboten in der BRD“, an dessen Jury er beteiligt war, einer der Mitgründer und zeitweise Sprecher des „Komitees für Grundrechte und Demokratie“. Das Komitee begreift als seine Hauptaufgaben, einerseits aktuelle Verletzungen von Menschenrechten kundzutun und sich für diejenigen einzusetzen, deren Rechte verletzt worden sind (z.B. sogenannte Demonstrationsdelikte, Justizwillkür, Diskriminierung, Berufsverbote, Ausländerfeindlichkeit, Totalverweigerung, Asyl- und Flüchtlingspolitik), andererseits aber auch Verletzungen aufzuspüren, die nicht unmittelbar zutage treten und in den gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen angelegt sind (struktureller Begriff der Menschenrechte). Als Mitorganisator des „Foucault Tribunals zur Lage der Psychiatrie“ wurde er 1998 vom Präsidenten der FU gemahnt. 2001 wurden ihm als Veranstalter des „Russell Tribunals zur Lage der Menschenrechte in der Psychiatrie“ und von „Geist gegen Gene“ sogar unter verlogenem Vorwand auf Druck der FU Zwangspsychiatrie die reservierten Räume in der FU von deren Präsidenten verweigert!

Wolf-Dieter Narr ist Mitherausgeber von »Bürgerrechte und Polizei«. Einige seiner zahlreichen Publikationen: Theoriebegriffe + Systemtheorie. Staatliches Gewaltmonopol, bürgerliche Sicherheit, lebenslange und zeitige Freiheitsstrafe. Globalisierung des Terrors. Weltökonomie - die Misere der Politik. Zukunft des Sozialstaats - als Zukunft einer Illusion?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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