HOFFNUNGEN
und
ZIEGELSTEINE

Von Igor Girich / Rußland
Im Osten was Neues:
ein Bericht aus Rußland

Seit der ersten ZWANG hat sich in Rußland eine Menge getan.
Zum ersten Mal können wir hoffen, dass positive Veränderungen noch möglich sind: Der Prozess "Rakevich gegen Rußland" hat dies gezeigt.

Und das kam so: Im Oktober 2003 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Rußland empfohlen, seine Gesetze zur psychiatrischen Zwangsbehandlung zu ändern. Denn der Fall "Rakevich gegen Rußland" wurde von Tamara Rakevich gewonnen, die mit Zwang in einer psychiatrischen Anstalt eingesperrt worden war. Weiter unten folgt in gekürzter Form ein Bericht darüber aus der russischen Zeitung "Gazeta" (der gesamte Text ist auf Englisch hier veröffentlicht:
www.psychiatrie-erfahrene.de/rakevich.htm).
Tamara Rakevich wurde zwangsweise ohne irgendeinen Grund in Ekaterinburg im psychiatrischen Krankenhaus festgehalten und empfängt durch die Entscheidung des Gerichtes eine Entschädigung von 3.000 Euro.

Die 42 Jahre alte Bürgerin der Stadt Ekaterinburg, Tamara Rakevich, wurde dort am 26. September 1999 ins psychiatrisches Krankenhaus Nr. 26 eingeliefert. Der Vorwand für die Zwangsbehandlung wurde durch eine Bekannte gegeben. Wie von Frau Rakevichs Rechtsanwalt der "Gazeta" berichtet wurde, traf sie eine gewisse " Anna Demeneva" bei einer gemeinsamen Bekannten in deren Wohnung, um einige religiöse Fragen zu besprechen.

Beim gemeinsamen Lesen der Bibel endete die Diskussion theologischer Fragen in einem Konflikt. Die Bekannte des Opfers hatte, nachdem sie bemerkte, dass Frau Rakevich während des Lesens der Bibel weinte, entschieden, einen Psychiater anzurufen. Hinzu kam, dass ihrer Bekannten, eine “Zeugin Jehovas”, der Glaube des Opfers, einer orthodoxen Christin, merkwürdig vorkam.
Die Psychiater, die auf den Anruf herbeieilten, behaupteten, dass Tamara Rakevich in einem "beunruhigenden Zustand" sei und das war, ihrer Meinung nach, die hinreichende Grundlage für eine Zwangsbehandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Tamara wurde im psychiatrischen Krankenhaus Nr. 26 in Ekaterinburg 39 Tage lang ohne eine abschließende Entscheidung durch das Gericht eingesperrt. Im Krankenhaus stellten die Ärzte fest, dass die Patientin "in einem Zustand einer starken geistigen Frustration und vollständig verwirrt war": die Patientin lehnte es ab, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Am 28. und 29. September 1999 wurde dann von den Psychiatern im Krankenhaus diagnostiziert, dass die Patientin an "paranoider Schizophrenie" leiden würde und eine Behandlung, die der Diagnose entsprach, wurde eingeleitet. So wurde sie nach Auskunft der Rechtsanwältin von Frau Rakevich einer zwangsweisen Verabreichung von Medikamenten trotz Widerspruchs ihrer Klientin unterzogen.

Entsprechend der Dokumentation der Ärzte benahm sich Frau Rakevich während des gesamten Zeit der sog. "psychiatrischen Korrektur" unbeteiligt und schrieb reihenweise Beanstandungen.

Am 5. November 1999 traf, auf Bitten der Psychiater, in Ekaterinburg ein regionales Gericht eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Zwangbehandlung von Frau Rakevich. Sie schrieb Beschwerden, aber wie üblich ohne Erfolg...

Demeneva beharrte darauf, dass das regionale Gericht unrecht habe, weil es unfairerweise den Fall verzögert hatte. So hatte die Entscheidung des Gerichts 39 anstelle von nur 5 Tagen gedauert, die vom Gesetz vorgegeben sind. Die vorgeschobene Behauptung, dass Frau Rakevich Handlungen eine Bedrohung anderer seien, wurde von ihren Rechtsanwälten widerlegt.

In Betracht aller Umstände im Fall Rakevich, hat das Gericht in Straßburg entschieden, dass die Entscheidung des russischen Gerichts Artikel 1, Punkt 5 der Europä ischen Menschenrechtskommission widerspricht, der besagt, dass "jeder das Recht zur Freiheit und Sicherheit der Person hat. Niemand darf seiner Freiheit beraubt werden, außer in den spezifizierten Fällen und in Übereinstimmung mit einem Verfahren, das durch das Gesetz vorgeschrieben wird”. Dieses Verfahren wurde von den Richtern in Ekaterinburg völlig außer Betracht gelassen. Entsprechend hat das Gericht entschieden, dass die Regierung der russischen Föderation der Antragstellerin innerhalb von drei Monate eine Geldstrafe von 3.000 Euro in Rubel zu zahlen hat. Zusätzlich wurde Rußland dringend nahegelegt, Änderungen der Gesetzgebung bei sog. "psychiatrischer Hilfestellung" vorzunehmen.

Die Reaktion des Systems, dessen "Änderungen" und "Entwicklungen"
In einer Zeit, in der wir uns Veränderungen zum Besseren erhoffen, träumen andere von gänzlich anderen Perspektiven. Ich spreche von der Diskussion in der Duma (russisches Parlament) über ein Programm, das "Entwicklung der psychiatrischen Pflege in der russischen Föderation" genannt wird.

Das psychiatrische System hat es initiiert. Wir hören die üblichen Töne: "Die Zahl der Geisteskranken ist drastisch gestiegen, es sind gefährliche Leute, wir haben nicht genügend moderne Drogen..." Das ist kein nationales Lied, sondern ein internationales: haben Sie es nicht auch im "progressivsten " Land gehört?

Das Ziel ist, kurz gesagt, die Zahl der psychiatrischen "Krankenhäuser" (die bestehenden 296 sind offenbar nicht genug für ihren Appetit) und die Gelder für die, die angeblich „pflegen", zu erhöhen...

Sie planten eine Menge Änderungen im Gesetz "über psychiatrische Hilfe..." in einer Weise, die erheblich grundlegende Menschenrechte unbeachtet läßt, das Verfahren der unfreiwilligen Einsperrung vereinfachen und Versuche an den psychiatrischen Gefangenen, legalisieren sollte. Dieses Projekt wurde von einer Gruppe Moskauer Psychiater, hauptsächlich vom Institut Serbsky vorgeschlagen (dasZentrale Institut der Forensischen Psychiatrie).

Wir versuchten entgegenzuwirken, indem wir E-Mails an Duma-Delegierte schickten, mit der Bitte, die Pläne der Psychiater zu stoppen. Aber diese Art der Kommunikation steht unter fast totaler Überwachung... "Staatssicherheit" in Rußland heißt jetzt, insbesondere solche unerwünschten Nachrichte, zu blockieren. Sie scheinen die Empfänger nicht erreicht zu haben. So mußten wir die gewöhnliche Post verwenden. Es ist der teurere Weg, aber wir hoffen, dass mindestens einige der Briefe ihr Ziel erreicht haben. Infolgedessen sahen wir einen positiven Effekt - die Duma hat diese Gesetzesänderungen nicht akzeptiert und den Plan "der Entwicklung der psychiatrischen Pflege..." abgelehnt. Wie in der russischen Zeitung "Izvestiya" zu lesen war, haben nicht nur wir versucht, die Situation zu beeinflussen - möglicherweise waren die Bemühungen anderer effektiver. Gott sei Dank - die Duma hat sich von diesem Programm distanziert.

Die Hauptschwierigkeiten
In den letzten drei Jahren war die Psychiatrie in einer schwierigen Situation. Oberst Budanov, der im Frühjahr 2000 der Ermordung eines Tschetschenenmädchens beschuldigt wurde, wurde mehrmals psychiatrisch untersucht. Experten des Serbsky-Instituts "diagnostizierten”, dass der Oberst zur Zeit des Verbrechens vorübergehend geisteskrank war. Das Urteil des Gerichts hängt von der Entscheidung der Mitglieder der "Sachverständigen Kommission" ab.
Auch der sogenannte „Unabhängige Psychiatrische Verein" wurde in diese "Konkurrenz der Experten" mit einbezogen. Weil dieser Fall von entscheidender Bedeutung ist, wie der Staat sich in ähnlichen kriminellen Fällen in Tschetschenien verhält, schwankte der Oberst entsprechend zwischen "geisteskrank", "vorübergehend geisteskrank", "gesund" und "vorübergehend gesund". Die unterschiedlichen "Kommissionen der Experten" zogen ihre widersprüchlichen Schlüsse. Dieser Fall hatte große gesellschaftliche Resonanz - einige Leute glaubten sogar, dass Budanov ein Held dieses Krieges sei. Schließlich wurde Budanov für 10 Jahre (nicht psychiatrisch) eingesperrt.

Eine "gefährliche" Sitzung wurde verhindert
Aber noch gab es keine sichtbaren positiven Änderungen. Heute fanden wir einen Rechtsanwalt, der bereit ist, einen langfristigen psychiatrischen Gefangenen, Igor Gubin, zu verteidigen, der in einer lokalen "medizinischen" Anstalt zu ungefähr einem Haftjahr verurteilt worden ist (und dies nicht zum ersten Mal). Die Psychiater waren nicht sehr erfinderisch, wenn es darum ging, Igor vor ihrer unerwünschten "Hilfe" zu schützen - sie lehnten es einfach ab, ihm Zugang zu einem Rechtsanwalt zu gewähren.
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Vorher

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Nachher

Ein "Geschenk"
Im Gegenteil, die Psychiater in Barnaul glaubten, dass das Gebäude "des Krankenhauses" zu viele Fenster hat, um "therapeutisch wirksam" zu sein. Ende 2003 haben sie ein Fenster mit Ziegelsteinen zugemauert. Die Toilette, die immer ein Ort von Sitzungen und Diskussionen war, ein Ort, an dem man etwas Frischluft von draußen einatmen konnte, wurde zu einem fensterlosen Kasten. Dieses Fenster können Sie auf dem Foto in der vorhergehendem ZWANG sehen. Jetzt sieht es wie auf diesem Bild abgebildet aus.

Ein „kosmetischer” Verteidiger
Traditionsgemäß sind Gerichte und Staatsanwälte in Russland nicht wirkungsvoll, was das Verteidigen von Bürgern, die von den Psychiatern unterdrückt werden, betrifft. Die Staatsmacht versucht, deren Bemühungen diesbezüglich zu unterlaufen, indem sie das Institut des "Ombudsmannes" als alternativer Staats-"verteidiger" vorstellte. Aber "Man wird sie an ihren Früchten erkennen..." (Matthäus 7:16). Geschaffen analog zu den westlichen Ombudsmännern, haben sie bis jetzt die Ähnlichkeit nur im Titel gezeigt. Was ich hier schreibe, basiert auf unserer Erfahrung, an diesen Altai-"Ombudsmann" zu appellieren: es war nicht wirkungsvoller als eine Bitte an "Ärzte", sie mögen uns nicht ihren Mist einspritzen.

Nicht nur Menschenrechte
Psychiatrische Ideologie ist in verschiedene Bereiche der Gesellschaft eingedrungen. Ich glaube, dass eine gemeinsame Auffassung der Menschenrechte nicht hinreichend ist, wenn wir ohne Psychiatrie leben möchten - das Recht eines Volkes könnte mit dem Recht eines anderen zusammenstoßen, und diese Auseinandersetzung könnte endlos sein. Wir benötigen eine andere Regelung, die uns hilft, die Prioritäten der Rechte im Falle einer Auseinandersetzung festzulegen. Heute wird diese regulative Rolle häufig an Richter, Experten oder einfach der brachialen Gewalt übergegeben. Die Heilige Schrift enthält die Schlüssel, die normalerweise nicht im Gebrauch moderner "Gesellschaften der Menscherechte" sind. Warum verwenden wir sie nicht?

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